Landeszeitung Lüneburg: Die fröhliche Überwachung - Der Lüneburger Kulturwissenschaftler Andreas Bernard spürt dem Phänomen nach, warum wir Daten freiwillig preisgeben
(ots) - Prof. Dr. Bernard, haben Sie im Internet auch ein
Profil, und wenn ja, welche Daten geben Sie da von sich preis?
   Prof. Dr. Andreas Bernard: Ich habe keine Ahnung, wie viele 
Profile von mir existieren. Ich bin bei Facebook, mehr auch nicht. 
Aber da ich schon mal bei Amazon eingekauft habe, wird es auch dort 
ein Profil von mir geben. Und wenn ich mein Smartphone aktiviert 
habe, hinterlasse ich auch Spuren im digitalen Netz - ob ich will 
oder nicht. Früher musste man Dinge unternehmen, um in etwas 
hineinzukommen. Heute muss man sich "entnetzen".
   In Ihrem neuen Buch stellen Sie ernüchternd fest, dass wir heute 
Technik benutzen, die zum einen durch das Militär entwickelt wurde, 
zum anderen aus der Kriminalistik stammt. Können Sie ein Beispiel 
geben?
   Bernard: Navigationssysteme im Auto basieren auf GPS - eine 
Erfindung des amerikanischen Militärs, die ursprünglich dazu diente, 
feindliche Raketen zu lokalisieren. Im Jahr 2000 wurde dieses System 
der Öffentlichkeit freigegeben, um damit Geld zu verdienen. GPS ist 
ja längst auch ein wesentliches Werkzeug von Smartphones. Und was die
Kriminalistik angeht: Früher bekamen Verbrecher eine elektronische 
Fußfessel angelegt, damit man ihren Standort überwachen konnte. Diese
Aufgabe übernimmt ebenfalls das Smartphone, es verrät unseren 
Aufenthaltsort. Schauen Sie sich die Smartwatch von Apple an: Die 
erfüllt nicht nur dieselbe Funktion wie eine Fußfessel - die sieht 
auch genauso aus, viele "Fußfesseln" wurden nämlich am Arm 
angebracht. Wir geben Geld für ein Statussymbol aus, das eigentlich 
ein Überwachungsgerät ist.
   Durch die GPS-Funktion orientiere ich mich aber nicht nur in der 
Fremde, sondern hinterlasse auch viele Spuren. Ich stelle mir einen 
dicken, Chips essenden Amerikaner auf der anderen Seite des Atlantiks
vor, der vor riesigen Bildschirmen sitzt und verfolgt, wie Herr 
Müller erst ein Stundenhotel aufsucht und dann seinen Psychiater. Und
das jeden Montag um 13 Uhr. Mit diesem Wissen ist Herr Müller ja fast
schon erpressbar.
   Bernard:Und bemerkenswert ist, dass diese Informationstechnologie 
innerhalb weniger Jahrzehnte von einer bedrohlichen Kraft - siehe 
Militär, siehe Kriminalistik - zu einem ganz neuen Werkzeug wurde, 
das viele Menschen als individuelle Befreiung ansehen. Diese Technik 
löst kein Unbehagen mehr aus. Der Medienwissenschaftler Friedrich 
Kittler formulierte einmal, dass Unterhaltungselektronik "Missbrauch 
von Heeresgerät" sei. Interessant ist übrigens die Überlegung, was 
passieren würde, wenn das US-Militär die GPS-Funktion, die an 32 
Satelliten gekoppelt ist, der Öffentlichkeit wieder entziehen würde.
   Wenn es um das Thema Daten geht, war die Würde des Menschen schon 
öfter ein Zankapfel. Beispiel Volkszählung 1987.
   Bernard:Da war die Empörung groß: Es gab Bombenattentate auf 
Verwaltungsgebäude, in denen die Fragebögen lagerten! Die vielleicht 
intimste der 33 Fragen auf dem Formular lautete: Wie weit ist ihr Weg
von der Wohnung zur Arbeit...
   Heute geben die Menschen wesentlich mehr von sich preis...
   Bernard:Das ruft Erstaunen in mir hervor und war der Impuls für 
meine Recherche. Menschen, die sich an die Zeit der Volkszählung 
erinnern, verbinden damit die damalige Angst vor dem gläsernen 
Menschen, der durchschaut und erfasst wird. Die Angst war auch damit 
verbunden, dass große Computer große Datenmengen verarbeiten, die vom
Staat genutzt werden können. Es war die Zeit der ersten 
Rasterfahndung der Polizei mit Computern, und die Menschen hatten das
Gefühl, wie Verbrecher behandelt zu werden. War die Volkszählung 
vielleicht nur ein Vorwand des Staates? Heute hat man den Eindruck, 
dass die Menschen zu der Zeit an einer Art Massenparanoia gelitten 
haben müssen. Denn heute geben wir täglich das 100-fache an 
Information preis - und tun das in der Regel ohne Angst. In Berlin 
gibt es mittlerweile einen Biomilch-Hersteller, der "gläserne 
Molkerei" heißt - das Attribut wird heute nicht mehr negativ 
angesehen, sondern als ethisches Gütesiegel. Und Volkszählungen rufen
heute nicht mehr die leiseste Spur von Widerstand hervor. Der letzte 
Zensus im Jahr 2011 in Deutschland wurde völlig geräuschlos 
durchgeführt. Wobei man sagen muss, dass zumindest junge Menschen 
gerade einen erstaunlich souveränen Umgang mit all diesen Medien 
entwickeln und ein fast instinkthaftes Gespür dafür haben, was sie 
preisgeben und was nicht.
   In Netzwerken werden die Menschen munter aufgefordert, ein Profil 
von sich anzulegen. Auch ein Begriff aus der Kriminalistik...
   Bernard:Ja,das ist schon erstaunlich: Profile waren früher 
Schwerverbrechern vorbehalten, die Fahndungsarbeit der 
Ermittlungsbehörden sollte dadurch erleichtert werden. Der Begriff 
ist derselbe geblieben, aber heute gibt es Profile von uns allen, 
obwohl wir gar kein Verbrechen begangen haben. Aber das Erstellen von
Profilen hat auch einen handfesten Grund: Früher beendete man die 
Schule und hatte dann ein oder zwei Jobs bis zur Rente. Das ist heute
anders: Es gibt immer weniger langfristige Festanstellungen. Also 
gilt es, sich auf Jobplattformen zu präsentieren und zu zeigen: Seht 
her, das bin ich, das kann ich, ich bin gut geeignet für den Job. Es 
ist notwendig geworden, sich als attraktives Objekt zu präsentieren.
   Bernard:Wobei Profile auch zu ganz anderen Zwecken genutzt werden.
Eine britische Kommunikationsagentur hat mithilfe von Profilanalysen 
Wahlkampf betrieben, indem sie individuell zugeschnittene 
Facebook-Botschaften verschickte und damit einen Teil dazu 
beigetragen haben soll, Donald Trump zum Präsidenten zu machen. Das 
sind natürlich Entwicklungen, die man genau im Auge behalten und 
untersuchen muss.
   Abgesehen davon, dass Berufsanfänger sich von ihrer besten Seite 
zeigen wollen: Woher kommt dieses Mitteilungsbedürfnis?
   Bernard:Ich habe darauf keine eindeutige Antwort. Smartphones oder
soziale Netzwerke drücken das Verlangen nach Kommunikation und 
Austausch und Gemeinschaft aus. Dafür nehmen wir in Kauf, dass wir 
ständig überwacht werden. Dabei hat diese Überwachung nichts 
Bedrohliches mehr, sondern es ist der Reiz des fröhlichen 
Miteinanders, der für die Menschen im Vordergrund steht. Sie sind ja 
nicht blöd oder naiv. Es muss etwas geben, was sie diese Überwachung 
in Kauf nehmen lässt. Es wirkt so, als ob sie auf etwas warten. Heute
schauen wir zigmal auf unser Smartphone und checken eingegangene 
Nachrichten. Und wer heute nicht in Netzwerken registriert ist, gilt 
als auffällig. Gegebenheiten verschieben sich: Bestellte man früher 
eine Pizza über das Internet, galt das als Indiz akuter Vereinsamung.
Heute ist es ein urban-mobiler Lifestyle ...
   Zurück zur Kriminalistik. #Lügendetektoren scheinen ja auch einen 
Weg in die Privatsphäre genommen zu haben.
   Bernard:Mit Lügendetektoren haben Polizei und Justiz versucht, 
Verbrecher zu überführen, indem Herzschlag, Blutdruck oder 
Schweißabsonderung gemessen werden. Mit mechanischen Schrittzählern 
wurden vor 100 Jahren Tatorte unter die Lupe genommen. In der 
heutigen Zeit gibt es Armbänder, die diese Funktionen übernehmen: Sie
messen den Puls und zählen unsere Schritte. Wenn Sie bei einer 
bestimmten Versicherungsgesellschaft Kunde sind, können Sie der 
Übermittlung dieser Daten zustimmen. Der Anreiz: Verhalten Sie sich 
laut Armband gesund und sportlich, sammeln Sie Bonuspunkte und sparen
Geld beim Beitrag.
   Wobei es auch hier scheinbar um Gemeinsamkeit geht.
   Bernard:Sie werden dazu angehalten, mit Freunden in den Wettbewerb
zu treten: Wer hat heute die meisten Schritte zurückgelegt? Das 
Schrittezählen - von der Psychoanalyse Sigmund Freuds Anfang des 20. 
Jahrhunderts als neurotische Störung betrachtet - ist heute also zu 
einem spielerischen Vergleich geworden. Wobei es auch hier um Daten 
geht, die von dem Konzern präzise ausgewertet werden. Und wenn Sie 
demnächst bei einer großen Supermarktkette einkaufen, werden die 
Lebensmittel gescannt und an die Versicherung übermittelt. Wenn es 
gesunde Lebensmittel sind, bekommen Sie einen Bonus. Das ist keine 
Science Fiction, sondern wird im Rahmen des Versicherungsprogramms 
"Generali Vitality" 2018 Realität. Beim Thema Gesundheit hat es in 
den vergangenen Jahrzehnten ohnehin eine Verschiebung gegeben. Früher
waren Brust- oder Darmkrebs Schicksalsschläge, die demütig akzeptiert
wurden. Heute fragt man: Warum hat die Person nicht vorgesorgt? Ich 
finde, das hat etwas Bedrückendes.
   Das bedeutet, dass sich auch der Begriff der Privatsphäre wandelt.
   Bernard:Ich glaube sogar, dass sich Begriffe wie Privatsphäre und 
Datenschutz gerade auflösen. Sie entstanden unter Bedingungen, die 
heute nicht mehr gegeben sind. Was ist Privatsphäre noch, wenn man 
das Intimste in ein soziales Netzwerk schreibt?
   Das Interview führte Thorsten Lustmann
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Datum: 09.11.2017 - 17:53 Uhr
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