Rheinische Post: Die Großen gehen
(ots) - Richard von Weizsäcker, Egon Bahr, Helmut 
Schmidt und jetzt: Hans-Dietrich Genscher. Innerhalb kurzer Zeit sind
viele gegangen, die als Staatsmänner lange von sich reden machten. 
Immer sind mit ihrem Tod noch einmal Bilder einer deutschen 
Vergangenheit lebendig geworden, die bewegt war: Der junge von 
Weizsäcker, wie er vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal den 
eigenen Vater verteidigt oder wie er später vor dem Bundestag seine 
berühmte Rede zum 8. Mai hält und von Befreiung spricht, nicht von 
Niederlage. Bahr, wie er mit Willy Brandt die Köpfe zusammensteckt 
und in diesem Augenblick vielleicht den letzten Baustein in eine neue
Ostpolitik einfügt. Schmidt, der "leitende Angestellte" der Republik,
wie er die Hamburger Flut bekämpft, Genscher schließlich, wie er 
vergeblich versucht, palästinensische Terroristen davon abzubringen, 
israelische Sportler im Olympischen Dorf in München zu ermorden. Oder
wie sein erlösender Satz auf dem Balkon der deutschen Botschaft in 
Prag im Jubel untergeht. Nun sind auch sie Geschichte. Noch einmal, 
glaubt man zu spüren, schließt sich ein Kapitel. Es sind diese 
Bilder, die zugleich die Antwort liefern auf die uralte Frage: Was 
bleibt? Wenn sie jung sind, halten sich Menschen für den Mittelpunkt 
des Universums, auch wenn sie noch keinerlei Verdienst erworben, 
keinerlei Spuren hinterlassen haben. Im Alter ahnt man dann, dass 
verflixt wenig von einem selbst die eigene Existenz überdauern 
dürfte, obwohl man doch die eine oder andere Weiche gestellt hat, die
sich wiederfände, wenn jemand in der Zukunft sich die Mühe machte, 
eine Reise in die Vergangenheit anzutreten. Die meisten von uns 
streben danach, das Richtige zu tun im Leben, weil sie hoffen, dass 
dieses Richtige das ist, was bleibt, etwas Magisches, das der Tod 
nicht wegnehmen kann. Die Großen, die gerade gehen, haben vieles 
richtig gemacht, sie hatten aber auch Fortune, zur richtigen Zeit am 
richtigen Ort zu sein, um dort das zu tun, was andere womöglich auch 
vermocht hätten, weil es möglicherweise das einzig Richtige war. Ob 
sie es wollten oder nicht: Weil die Welt in einem Moment auf sie 
blickte, wurden sie Teil der Historie. Das Amt forme den Mann, nicht 
der Mann das Amt, heißt es über die amerikanischen Präsidenten, und 
vielleicht verhält es sich ja grundsätzlich so, dass eher die 
Geschichte Helden hervorbringt, als dass Helden Geschichte schreiben.
Doch obwohl weder von Weizsäcker noch Bahr, Schmidt oder Genscher 
sich je als Helden verstanden, ragten sie bis zuletzt aus dem 
politischen Personal der Gegenwart überlebensgroß heraus. 
Persönlichkeiten wie sie wirkten auf eine unnachahmliche Weise 
authentisch, weil sie längst Teil des kollektiven Gedächtnisses 
geworden waren. Weil das, was sie sagten oder was sie taten, die 
Leute wirklich bewegt hat. Vielleicht stirbt mit ihnen ja ein 
Politikertypus aus, den die Republik noch bitter vermissen wird, weil
Volksvertreter sich zunehmend schwertun, das Volk zu erreichen. Was 
bleibt, sind nicht Promis, sondern Persönlichkeiten auf Bildern, die 
etwas Besonderes vermitteln: weder Moden, Hypes noch Eitelkeiten, 
vielmehr Momente der Wahrhaftigkeit: So wie Willy Brandts Kniefall 
vor dem Mahnmal zu Ehren der Opfer im Warschauer Ghetto oder das 
Mütterchen, das dem Bundeskanzler Konrad Adenauer die Hand küsst, 
weil er den Sohn zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit den 
letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion nach Hause geholt hat. 
Aber machen wir uns nichts vor: Auch sie werden mit der Zeit 
verschwinden. Das Leben findet in der Gegenwart statt. "Ruhm ist 
vergänglich, aber unbedeutend zu sein, ist für immer", presste einst 
trotzig Napoleon Bonaparte hervor, ein kleiner Mann, der auf keinen 
Fall in den Geschichtsbüchern fehlen wollte. Weiser hört sich indes 
die österreichische Dichterin Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach an:
"Was liegt am Ruhm, da man den Nachruhm nicht erleben kann?"
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Datum: 01.04.2016 - 20:28 Uhr
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