Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar
Zum Tode von Hans-Dietrich Genscher
Ein großer Diplomat
Thomas Seim
(ots) - Es gibt kaum einen deutschen Außenminister, 
dessen Name eine eigene außenpolitische Strategie definiert. 
Hans-Dietrich Genscher hat diesen Eintrag in die Geschichtsbücher 
geschafft: Genscherismus - das bezeichnet die Phase der Außenpolitik,
die eine Brücke des Vertrauens zwischen West und Ost schaffen wollte.
Deutschlands oberster Diplomat stützte sich dabei auf eine Erkenntnis
der frühen 1970er Jahre, die von der einseitig militärischen 
Sicherheitspolitik für Europa abrücken wollte. Der Genscherismus nahm
so Mitte der 80er Jahre jenen Gedanken des Wandels durch Annäherung 
neu auf, der schon Willy Brandts Ostpolitik antrieb. Beliebt machte 
sich Genscher damals nicht. Im innenpolitischen Streit warf man ihm -
je nach politischer Sortierung - Ausgleichs-, Pendel- oder 
Scheckbuch-Diplomatie vor. Satiriker und Gegner machten sich lustig 
über die Reiserei des Außenministers. US-Diplomaten wiederum sahen im
Reagan-Jahrzehnt in Genscher den "slippery man", den "aalglatten" 
oder auch "gerissenen" (der US-Botschafter Richard Burt) 
"Super-Schlangenmenschen" (der US-Journalist Jim Hoagland). 
Tatsächlich indes versetzte diese Diplomatie und der dann auch für 
Genscher überraschend schnelle Zusammenbruch des Ostblocks 
Deutschland und den Westen in die Lage, knapp 40 Jahre nach 
Kriegsende ihren Einfluss auf die internationale Politik entscheidend
auszubauen. Dieser Erfolg des Genscherismus - in den historischen 
Bildern vom Balkon der Prager Botschaft oder an der Seite Helmut 
Kohls bei Gorbatschow im Kaukasus dokumentiert - überstrahlt heute 
alle anderen politischen Wirren und Querelen, an denen Genscher auch 
beteiligt war. Der Bruch der Koalition mit der SPD Helmut Schmidts 
1982 gehört dazu, der die FDP spaltete und ihr einen großen Aderlass 
an politischen Talenten bescherte. Auch der sehr problematische 
Alleingang Genschers bei der Anerkennung der jugoslawischen 
Teilrepubliken Slowenien und Kraotien im Dezember 1991 entsprach 
nicht den Vereinbarungen mit den Partnern der Europäischen 
Gemeinschaft und der KSZE-Schlussakte von Helsinki. Bis heute beruft 
sich Russland - beispielsweise bei einseitigen Grenzverletzungen in 
der Ukraine - auf Genscher. Für seine Partei, die FDP, der er sich 
zeitlebens so tief verbunden fühlte, dass er mit gelbem Pullunder und
dunkelblauem Jackett stets ihre Farben trug, konnte er nach seinem 
Ausscheiden aus dem Auswärtigen Amt nicht mehr erfolgreich wirken. 
Die von ihm stets geförderten jungen liberalen Talente haben es 
bislang nicht geschafft, ihre Partei auf das Niveau des obersten 
Genscheristen zu führen. Der Niedergang seiner FDP schmerzte Genscher
bis zuletzt tief. Ein großer deutscher Diplomat ist von uns gegangen.
Mit ihm ging eine der wenigen noch verbliebenen historischen Figuren 
einer großen historischen Epoche.
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Datum: 01.04.2016 - 20:30 Uhr
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