Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Flüchtlingskrise
(ots) - Schweden kann nicht mehr. Das Land mit seinen
9,5 Millionen Einwohnern hat 2015 mehr als 160 000 Menschen
aufgenommen - und ändert nun seine bislang großzügige
Flüchtlingspolitik komplett. Verkehrsunternehmen dürften nur noch
Passagiere von Dänemark nach Schweden befördern, die gültige
Ausweispapiere bei sich haben. Die Passkontrollen betreffen vor
allem die täglich 32 000 Pendler zwischen dem schwedischen
Malmö und dem dänischen Kopenhagen, sofern sie mit Bus und Bahn zu
ihrer Arbeitsstelle fahren.
Die Entscheidung des Parlaments in Stockholm löst einen
Domino-Effekt in südlicher Richtung aus. Denn nachdem Schweden seine
Grenzen für Flüchtlinge undurchlässiger gemacht hat, fühlt sich
Dänemark unter Handlungsdruck gesetzt - und greift seinerseits zu
ähnlichen Maßnahmen an der Grenze zu Deutschland. Nun sitzen
Flüchtlinge, die nach Schweden wollen, nicht mehr in Dänemark fest,
sondern in Schleswig-Holstein.
Trotz forscher Absichtserklärungen und beruhigender
Feiertagsreden: In der Flüchtlingskrise ist nicht ansatzweise eine
Lösung in Sicht. Angela Merkels Worte von einem »nationalen Kraftakt«
hallen vernehmlich nach. Die Kanzlerin weiß, dass eine Vereinbarung
innerhalb der Europäischen Union (EU) unwahrscheinlich ist - weil ihr
im Gegensatz zur Eurokrise die Druckmittel fehlen. Vorerst hält sie
daran fest, dass Deutschland die Hauptlast auf dem Kontinent trägt -
ohne eine nominelle Obergrenze.
In den meisten Ländern Europas herrscht der Eindruck vor, dass aus
der Flüchtlingswelle eine Völkerwanderung erwachsen ist, die sich
kaum noch kontrollieren lässt. Da kontrollieren nicht nur Schweden
und Dänemark ihre Grenzen lieber selbst.
Die Zeiten, in denen Europa seine Grenzen nach außen gesichert
hat, um nach innen Freizügigkeit gewähren zu können, drohen bald
vorbei zu sein. Den Bürgern kann etwas Abstraktes wie der europäische
Gedanke oder die Freizügigkeit in der EU herzlich egal sein, wenn vor
der eigenen Haustür das gesellschaftliche Gefüge in Schieflage gerät
- selbst wenn es nur so empfunden wird.
Unsere deutsche Debatte dreht sich fast ausschließlich um
Bürokratie und Geld für die Unterbringung und Betreuung der
Asylbewerber. Wollen wir noch zu einer zumindest teilweisen
europäischen Lösung kommen, dürfen wir die grundsätzlichen Fragen
nicht länger auslassen: Ist der ein Flüchtling, der sich innerhalb
der EU nicht verteilen lassen will? Kann und darf es Flucht
innerhalb Europas überhaupt geben?
Darauf sollte die EU Anworten finden, statt sich gegenüber der
neuen polnischen Regierung als Oberlehrer aufzuspielen.
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Andreas Kolesch
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Datum: 04.01.2016 - 21:00 Uhr
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