Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zum britischen Ultimatum/EU
(ots) - von Daniela Weingärtner, MZ
Nun hat es die EU schriftlich. David Cameron will weniger für die
Gemeinschaft zahlen, weiter überall mitreden und sich keine Reformen
vorschreiben lassen. Einen Zeitpunkt, zu dem er seine Wähler über das
Ergebnis abstimmen lassen will, nennt der britische Premier nicht. In
seinem Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk macht er aber klar, dass
die Verhandlungen zügig über die Bühne gehen sollen. Schon beim
Dezembergipfel kurz vor Weihnachten sollen die 28 EU-Chefs erste
Reformbeschlüsse fassen. In einem Moment, da die Eurokrise keineswegs
ausgestanden ist und die Flüchtlingskrise gerade erst begonnen hat,
soll die EU sich also in eine Reformdebatte stürzen. Die Frage, ob
sich Europa als Solidargemeinschaft oder als Freihandelszone
versteht, ist seit den Rettungsprogrammen, den Sparbeschlüssen der
Finanzminister und der sie begleitenden deutsch-griechischen Polemik
aktueller denn je. Die mangelnde Bereitschaft, den Massenexodus aus
dem Mittleren Osten gemeinsam zu schultern, hat das Thema noch einmal
schärfer akzentuiert. Deshalb kommt Camerons Brief im richtigen
Moment. Sehr zutreffend weist er darauf hin, dass Großbritannien als
weltweit fünftgrößte und EU-weit zweitgrößte Wirtschaftsmacht den
Europäern auch ohne Solidarerklärung eine Menge zu bieten hat. Mehr
Wirtschaftsleistung bringt im Kreis der 28 nur Deutschland auf die
Waage. Deshalb bietet die Britendebatte allen die Möglichkeit, sich
die Alternativen klar vor Augen zu führen. Würde Europa nach
britischem Wunsch neu geformt, nationale Souveränität wieder groß
geschrieben und der Gemeinschaftsgedanke in den Hintergrund gedrängt,
könnten Briten und Deutsche damit vermutlich ohne größere
wirtschaftliche Einbußen zurecht kommen. Doch Länder wie Ungarn, die
Slowakei oder Polen, die ebenfalls große Sympathien für Camerons
Gedankengut erkennen lassen, stünden ohne europäische Fördertöpfe und
EU-weite Arbeitsmöglichkeiten für ihre Beschäftigten deutlich
schlechter da. Camerons Forderungen zielen auf die Kernbereiche der
Union mit der größten Symbolwirkung: Auf die gemeinsame Währung und
den gemeinsamen grenzfreien Raum. Hätte die in den 90er Jahren aus
zwölf Mitgliedern bestehende EU sich damals von britischen Bedenken
beeinflussen lassen, hätten ihre Führer kühl gerechnet und nichts
riskiert, gäbe es Grenzkontrollen und Wechselstuben wohl heute noch.
Die Weltfinanzkrise hätte dennoch stattgefunden, auch die Flüchtlinge
hätten sich von ein paar Schlagbäumen nicht abhalten lassen. Die
Entwicklung von Randstaaten wie Portugal und Irland wäre vermutlich
weniger dynamisch verlaufen, und sie hätten sich auch nicht so
schnell von den schlimmsten Auswirkungen der Finanzkrise erholt.
Dennoch steigt auch und gerade in den kleinen Mitgliedsländern die
Anzahl derer, die sich von der EU übervorteilt und schlecht behandelt
fühlen. Die Regierungschefs haben großes Geschick darin entwickelt,
Alleingänge wie Victor Orbans Zaunbau in Ungarn oder die
rhethorischen Attacken von Staatspräsident Milos Zeman in Tschechien
diplomatisch zu überspielen. Sie hoffen, dass die EU auch die
aktuelle Belastungsprobe übersteht, ohne die grundsätzliche Frage
nach der Werte- und Solidargemeinschaft intensiver beleuchten zu
müssen. Camerons Brief zwingt nun alle, Farbe zu bekennen. Vielleicht
wird die EU in ihrer jetzigen Form diesen Prozess nicht überleben.
Vielleicht wird der Kreis der Mitglieder dramatisch schrumpfen
müssen, bevor er wieder wachsen kann. Doch das ist allemal besser,
als in großer Runde hilflos vor den Herausforderungen des 21.
Jahrhunderts zu stehen.
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