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Landeszeitung Lüneburg: Alte Werte braucht das Land - Interview mit Dr. Ulrich Schneider über Integration von Flüchtlingen

ID: 1276393


(ots) - Der Experte Dr. Ulrich Schneider über die
Voraussetzungen für das Gelingen der Integration von Flüchtlingen Der
anhaltene Zustrom von Flüchtlingen sorgt für erbitterte politische
Diskussionen. Das Asylrecht wird verschärft, gleichzeitig sind
Kommunen und soziale Einrichtungen überfordert. "Wir werden nicht um
Steuererhöhungen herumkommen", betont Dr. Ulrich Schneider. Der
Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes fordert im
Gespräch mit unserer Zeitung zugleich eine neue Wertediskussion in
der sozialen Arbeit.

Herr Dr. Schneider, trotz des steigenden Drucks aus den eigenen
Reihen bleibt die Kanzlerin in der Diskussion über die
Flüchtlingskrise dabei: Wir schaffen das! Schaffen das auch die
sozialen Einrichtungen in Deutschland?

Dr. Ulrich Schneider: Nicht ohne zusätzliche Hilfe. Klar ist, dass
wir in den kommenden Jahren zwischen ein und zwei Millionen Menschen
in Deutschland integrieren müssen. Dazu brauchen wir zusätzliche
Angebote unter anderem in den Bereichen Schule, Hochschule,
psychologische Zentren zur Trauma-Behandlung, Sprachkurse,
Jugendsozialarbeit oder berufliche Qualifizierung. Allein im Bereich
der Vorschuleinrichtungen sind es etwa 68 000 Kinder, die
zusätzlich aufgenommen werden müssen. Das führt dazu, dass wir mehr
Erzieherinnen brauchen, wenn die Gruppengrößen nicht explodieren
sollen. Die Gewerkschaft ver.di rechnet mit 2,7 Milliarden Euro pro
Jahr zusätzlich an Personalkosten allen im Vorschulbereich. Wir haben
200 000 zusätzliche Kinder, die jetzt eingeschult werden
müssen, die plötzlich da sind. Wenn wir die Klassen nicht drastisch
vergrößern wollen, wenn es nicht auf Kosten der Qualität gehen soll
in unseren Schulen, brauchen wir mehr Lehrer und mehr Räume. Die
sozialen Einrichtungen und die Bildungseinrichtungen können das




schaffen, wenn der Staat die notwendigen Gelder zur Verfügung stellt.

Das Geld ist vorhanden, nur das Personal nicht. Kann man das so
verkürzt sagen? Schneider: Das Geld ist vorhanden - nur bei den
falschen Leuten, wie Heiner Geißler vor zwei Monaten sagte.
Deutschland ist das viertreichste Land der Welt. Wenn wir es nicht
schaffen, wer dann? Wir haben auf privaten Konten der Deutschen ein
Privatvermögen von mehr als fünf Billionen Euro. Auch wenn es nicht
die Blaupause für das Gelingen der Integration ist: Wir werden nicht
um Steuererhöhungen herumkommen, um die öffentlichen Kassen zu
stärken und das soziale Netz auch für die Menschen zu spannen, die zu
uns gekommen sind.

Bezahlbarer Wohnraum wird immer mehr zur Mangelware in
Deutschland. Befürchten Sie eine gefährliche Zunahme des
Konkurrenzdenkens?

Schneider: Wir haben den sozialen Wohnungsbau in den vergangenen
Jahren extrem heruntergefahren. Der Paritätische Wohlfahrtsverband
hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass wir in diesem Bereich
mehr tun müssen. In Deutschland gibt es schon lange einen
Verdrängungswettbewerb. Die Flüchtlinge werden gerade da, wo es um
billigsten Wohnraum geht, zu noch mehr Verdrängungswettbewerb führen.
Hier ist der Staat gefordert, über sehr raschen sozialen Wohnungsraum
dafür zu sorgen, dass alle Menschen eine bezahlbare und vernünftige
Wohnung bekommen.

Das ist aber ein Zeitraum von mehreren Jahren - genauso wie die
Ausbildung von genügend Fachkräften. Sind wir nicht viel zu spät dran
damit?

Schneider: Ich halte nichts von dem Vorwurf an die Politiker, dass
man doch alles hätte vorhersehen müssen. Für die meisten Bürger sind
die Flüchtlinge relativ plötzlich da. Wir müssen jetzt erheblich
improvisieren und sehen, wie wir Wohnungen schneller bauen können als
üblich, wie wir Planungsverfahren verschlanken können. Auch wir im
sozialen Sektor müssen zusehen, wie wir schnell an zusätzliche Kräfte
im Sozialbereich kommen, auch wenn sie vielleicht noch nicht die
Qualifikation mitbringen. Vielleicht sollte dazu auch einfach im
Betrieb ausgebildet werden können wie in der Wirtschaft. Aber am Ende
wird entscheidend sein, ob das nötige Geld dafür vorhanden ist.

Sollten Flüchtlinge so schnell wie möglich arbeiten dürfen?

Schneider: Ja. Da sind sich alle einig in Deutschland - vom
Handwerk bis zur Industrie. Es ist unsinnig, wenn wir gut
ausgebildete Menschen in Erstaufnahmelagern zum Nichtstun verdammen.
Ich denke, wir sollten auch hier über vereinfachte Lösungen
nachdenken, Wir sollten nicht über sichere, sondern über unsichere
Herkunftsländer nachdenken. Wenn man weiß, hier kommt jemand aus
Syrien, sollte es stark vereinfachte Verfahren geben, und sehr
schnell sollten die Menschen arbeiten können. Das würde allen guttun.

Muss der Sozialstaat Deutschland nur angepasst oder gar umgebaut
werden?

Schneider: Völlig unabhängig von der Flüchtlingsfrage denke ich,
dass wir um einen Umbau der Finanzierung nicht herumkommen. In vielen
Bereichen macht es keinen Sinn mehr, dass wir diesen Sozialstaat noch
so finanzieren wie zu Bismarcks Zeiten, wo man ohne große
Produktivitätssprünge nur nachgerechnet hat, wie viel Geld die
Arbeiter in die Kassen einzahlen müssen. Heute machen eine kleine
Werbeagentur oder eine kleine Notars-Kanzlei deutlich mehr Gewinne
als ein Produktionsbetrieb mit 20 Mitarbeitern. Wir müssen also über
die Finanzierung des Sozialstaats neu nachdenken.

Was halten Sie vom immer mal wieder diskutierten, bedingungslosen
Grundeinkommen für alle Bürger?

Schneider: Es ist erst einmal sympathisch, weil es von einem
grundsätzlich positiven Menschenbild ausgeht, von Menschen, die von
Grund auf kreativ und fleißig sind. Hartz IV geht dagegen davon aus,
dass Menschen von Natur aus faul sind und dazu angehalten werden
müssen, zu arbeiten. Dem System des bedingungslosen Grundeinkommens
stehen aber so große Widerstände entgegen, dass dessen Umsetzung
derzeit gänzlich unrealistisch ist.

Sie fordern unter anderem eine neue Wertediskussion in der
sozialen Arbeit. Kann man eine solche Diskussion losgelöst von einer
Diskussion über allgemeine Werte in der Gesellschaft führen?

Schneider: Nein. Wir haben in den vergangenen 25 Jahren nicht nur
ein Rollback des Neoliberalismus erlebt, sondern auch ein
Verschwinden der Werte. Werte, die über Jahrzehnte unsere
Gesellschaft getragen haben. Da wäre zum Beispiel der Wert Treue.
Früher gab es für Mitarbeiter, die 25 Jahre in einem Betrieb
gearbeitet haben, einen Treueorden vom Bundespräsidenten. Wir haben
es in den 90er-Jahren geschafft, dass wir einen Menschen, der vier
Jahre in einem Betrieb arbeitet, als offensichtlich nicht mehr
vermittelbar abstempeln, weil er sich keinen anderen Job sucht, in
dem er mehr verdienen könnte. Dass sich Wertigkeiten verschoben
haben, merkt man schon an der Sprache. Früher sagte man, dass man
einen Beruf ausübt. Das hatte mit Berufung und Berufsehre zu tun. In
den 90er-Jahren spricht man davon, dass jemand einen Job macht. Das
meint: Alles muss er machen, alles ist zumutbar. Früher hat man sein
Geld verdient. Es war eine ethische Kategorie dabei: Ich will mein
Geld wirklich verdienen, ich will es auch verdient haben. Heute macht
man Geld. Egal, ob man es erarbeitet, geerbt, an der Börse erzockt
oder auf der Straße gefunden hat: Man macht Geld. Ein Wert wie Güte
wurde diffamiert, in dem die Menschen, die gütig sind, zu Gutmenschen
abgestempelt wurden. Der Begriff Güte ist verschwunden. Der Wert der
Gerechtigkeit wurde diffamiert als Sozialneid. Immer wenn jemand
Gerechtigkeit ruft, wird entgegnet: du bist ja nur neidisch. Es ist
ungeheuerlich: Interessen geleitete Gruppierungen haben Werte
diskreditiert, die Wertträger diffamiert und die Werte faktisch aus
unserem Sprachgebrauch getilgt.

Ist auch die mangelnde Identifikation mit unserem Staat ein Grund
für die Entfremdung und die negativen Entwicklungen? Es wird oft von
dem Staat gesprochen, aber nicht davon, dass wir der Staat sind.

Schneider: Das hängt damit zusammen, dass der Staat nicht mehr
alle Menschen mitnimmt. Gerade in den 50er-, 60er- und vor allem in
den 70er-Jahren gab es die Situation, dass jeder das Gefühl hatte, es
zu etwas bringen zu können. Das lag auch an der Sozialpolitik der
Regierung Willy Brandt. Es gab Bafög, auch Arbeiterkinder konnten
plötzlich studieren. Es gab Abendschulen und zweite Bildungswege. All
das implizierte: Du bekommst die Chance von uns. Man hatte das
Gefühl, mitgenommen zu werden. Man identifizierte sich tatsächlich
mit dieser Politik. Man war irgendwie dankbar. Und man fühlte sich
dem Gemeinwesen verpflichtet und sagte, ich will auch etwas für
dieses Gemeinwesen tun. In dem Moment aber, wo ein Staat sich
neoliberal gebärdet und sagt, jeder ist seines Glückes Schmied, wir
geben zwar eine gemeinsame Ziellinie vor, aber dann müsst ihr selber
sehen, wie ihr klarkommt, in diesem Moment muss sich ein Staat nicht
wundern, wenn die Identifikation mit dem Staatswesen bei den
Verlierern eines solchen Systems verloren geht. Das mündet in
mangelndem Engagement im sozialen Bereich, in mangelndem Engagement
im politischen Bereich und in sinkende Wählerquoten. Und letztlich
sogar in der Gefahr, dass braune Rattenfänger viele Leute einsammeln.

Wären Volksabstimmungen ein Instrument, um mehr Identifikation mit
dem Staat zu schaffen?

Schneider: Wenn Sie zum Beispiel in Berlin leben und seit fünf
Jahren arbeitslos sind, sich schon tausend Mal beworben, aber nur
kleine, unterbezahlte Jobs bekommen haben, dann interessiert sie
überhaupt nicht eine Volksabstimmung darüber, ob ein alter Flughafen
begrünt werden soll oder nicht.

Und wie sieht es mit größeren, essentiellen Themen aus?

Schneider: In Berlin reichte die Ankündigung einer Volksabstimmung
über sozialen Wohnraum schon zu einem Kurswechsel in der
Wohnungsbaupolitik. Um die Identifikation mit dem Staat zu erhöhen,
müssen es schon Volksabstimmungen über Themen sein, die dem Bürger
das Gefühl verschaffen, dass sich an der persönlichen Lebenssituation
etwas ändern kann.

Wie optimistisch sind Sie, dass wir die Integration schaffen?

Schneider: Aus meiner Sicht sind einige Dinge zwangsläufig. So
werden wir spätestens im Winter über die Schuldenbremse reden, weil
jetzt schon unklar ist, wie die Kommunen die Lasten tragen sollen.
Ich bin überzeugt, dass es im kommenden Jahr eine Diskussion über
eine neue Steuer- und Finanzpolitik geben wird, die auch wieder auf
die Einnahmeseite des Staates achtet. Es wird neu diskutiert werden,
dass Kommunen und Länder in die Lage versetzt werden müssen, ihrer
sozialen Verantwortung gerecht zu werden. Wenn es diesen politischen
Umschwung gibt, bin ich überzeugt davon, dass wir es schaffen.

Das Interview führte

Werner Kolbe



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe(at)landeszeitung.de


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Datum: 15.10.2015 - 18:57 Uhr
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